„Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis – auch noch im Alter“ – Marlis Lamers

Marlis Lamers
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Sexualität hört im Alter nicht einfach auf. Genau wie Essen, Trinken und Schlafen gehört sie zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Aber woher weiß man, dass sich ein alter Mensch, der pflegebedürftig ist, nach sexueller Befriedigung sehnt? Vor allem, wenn er sich verbal nicht mehr gut ausdrücken kann oder sich schämt, darüber zu reden? Viel zu oft passiert es, dass Bewohner*innen übergriffig werden – gerade weil oft die Kommunikation fehlt. Marlis Lamers hat Antworten und erklärt im Interview, welche Auswirkungen die fehlende Kommunikation hat und was Pflegeeinrichtungen ihren Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen bieten sollten.

Kommunikation ist der Schlüssel: „Sprecht über Sexualität und brecht das Tabu!”

Wenn die Worte fehlen, hilft sie bei der Übersetzung: Marlis Lamers ist Gefühlsdolmetscherin und Expertin für Emotionserkennung – ein Werkzeug der nonverbalen Kommunikation. Sie hat langjährige Erfahrung auf Palliativstationen, in Hospizen und mit Wachkomapatient*innen und ist immer wieder selber überrascht, wie viel Kommunikation trotz aller Einschränkungen möglich ist. Die Niederrheinerin ist davon überzeugt, dass gute Kommunikation auch der Schlüssel für den Bruch von Tabus ist. Mit ihrem Seminar zum Thema „Sexualität in der Pflege“ setzt sie sich dafür ein, dass dieses Tabu endlich gebrochen wird. „Es muss darüber gesprochen werden. Nach Durst, Hunger und Stuhlgang erkundigen sich Pflegekräfte immer. Aber ob es jemandem an Berührung fehlt, fragt keiner“, stellt sie fest.

Pflegekräfte sind mit dem Tabuthema oft überfordert

Für Marlis ist klar: Sexualität müsste schon in der Pflegeausbildung thematisiert werden. Denn sie merkt immer wieder: Werden Pflegekräfte mit der Sexualität von Pflegebedürftigen konfrontiert, schämen sie sich und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. „Es kommt auch vor, dass Pflegekräfte es störend oder eklig finden. Aber das sagt mehr über sie selbst aus.“ Deswegen plädiert sie dafür, dass sich Pfleger*innen zuerst mit ihrer eigenen Sexualität auseinandersetzen sollten, um auch klar abstecken zu können, wo die eigenen Grenzen sind. Ein Klaps auf den Po ist für die einen harmlos, für die anderen bereits Belästigung. Sexuelle Übergriffe von Patient*innen auf Pflegekräfte sind leider keine Seltenheit und auch immer wieder Thema in ihren Seminaren. „Wenn ein Bewohner sagen sollte „Na da unten können Sie ruhig noch mehr schrubben!“, sollte man ganz klar sein und sagen: ‚Nein, das ist nicht meine Aufgabe. Aber wenn Sie sexuelle Bedürfnisse haben, gibt es da andere Mittel und Wege.’ Ins Gespräch gehen ist das A und O!“, erklärt Marlis.

Pflegeheime brauchen Konzepte und müssen mehr Privatsphäre für ihre Bewohner*innen schaffen

Um Überforderung vorzubeugen, benötigen Pflegeeinrichtungen Konzepte für alle Mitarbeiter*innen. Darin müsse unter anderem erklärt werden,…

…dass Sexualität ein Grundbedürfnis ist und auch noch im Alter eine Rolle spielt,
…wie man erkennen kann, dass Pflegebedürftige sexuelle Bedürfnisse haben bzw. diese ausleben möchten
…und was zu tun ist, wenn Bewohner*innen sexuell übergriffig werden.

„Wünschenswert wäre auch in jeder Einrichtung eine Ansprechperson, an die sich Pflegekräfte wenden können und die auch ins Gespräch mit Bewohner*innen geht“, so Marlis. Außerdem gibt es aus ihrer Sicht zu wenig Privatsphäre für Pflegebedürftige. „Es reicht schon ein Schild, das auf „Bitte nicht stören“ gedreht werden kann.“ So könnten Bewohner*innen ganz in Ruhe onanieren, ohne dabei von Pflegekräften gestört zu werden.

Aufklärung über passive Sexualbegleitung

Fakt ist: Werden sexuelle Bedürfnisse befriedigt, sind Bewohner*innen ausgeglichener und müssten laut Marlis 30 Prozent weniger Medikamente nehmen. Aber wie können sie ihrer Sexualität nachgehen? Zum Beispiel mit passiver und aktiver Sexualbegleitung. „Die Senior*innen müssen wissen, was es für Möglichkeiten gibt.“ Passive Sexualbegleitung könnten Pflegeeinrichtungen bieten, in dem sie über das Thema aufklären und Infomaterialien auslegen, wie zum Beispiel Kataloge zu Sextoys, Pornos, Flyer zu aktiver Sexualbegleitung. „Es müsste auch möglich sein, dass Einrichtungen mit älteren, noch mobilen Menschen Ausflüge in Sexshops machen könnten“, findet Marlis.

Nähe und Zärtlichkeit über aktive Sexualbegleitung

Sehnen sich Pflegebedürftige nach Nähe und Zärtlichkeit, ist die aktive Sexualbegleitung perfekt geeignet. „Dabei steht die Verbindung zum Menschen im Fokus und nicht der Geschlechtsverkehr“, erklärt die Gefühlsdolmetscherin. „In Corona-Zeiten haben wir gesehen, was es mit Menschen macht, wenn sie keine Nähe spüren. Viele alte Menschen wurden depressiv, haben aufgehört zu essen und waren des Lebens satt. Ist das Leben noch lebenswert, wenn man ganz alleine ist, keinen Besuch mehr bekommt, keine Nähe mehr erfährt und immobil ist? Dann vegetiert man doch nur noch so vor sich hin. Wir sind alle soziale Wesen und brauchen alle Liebe und Wärme“, beschreibt sie treffend.

Andere Option: Prostitution in Anspruch nehmen

Wenn alte Menschen doch noch Geschlechtsverkehr haben möchten, ist die Inanspruchnahme von Prostitution auch eine Option. Ein Pflegeheim blieb Marlis besonders in Erinnerung: „Es lag in der Nähe von einem Bordell. Einmal pro Woche war das Bordell für die Senior*innen des Pflegeheims reserviert und jede*r, der/die das Bedürfnis hatte, konnte sich anschließen“, erzählt sie. Der offene Umgang mit dem Thema habe ihr sehr imponiert.

Sex auf Rezept? „Unbedingt!”

2017 haben die Grünen gefordert, dass es in Deutschland Sex auf Rezept geben sollte. Vorbild dafür waren die Niederlande, wo das möglich ist. Auch Marlis Lamers ist dafür. „Egal, ob es sich um aktive Sexualbegleitung oder den Gang zur Prostituierten handelt – beide Dienstleistungen sind teuer und nicht jeder kann sie sich leisten. Würden die Kosten übernommen werden, wäre das ein großer Fortschritt“, findet Marlis. Die Sexualbegleiterin Nina de Vries hat in unserem Interview allerdings klar gestellt, dass es auch in den Niederlanden immer noch mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden ist. Um wirklich Sex auf Rezept verschrieben zu bekommen, müsse man seine Finanzen komplett offen legen. Ob das dann überhaupt jemand macht?!

Fazit: „Die Kruste bröckelt so langsam”

Eins wurde deutlich: Kommunikation ist der Schlüssel, um das Tabuthema Sexualität in der Pflege und im Alter zu brechen. Marlis merkt, dass Pflegekräfte dem Tabuthema gegenüber langsam offener werden. „Die Kruste bröckelt, aber es ist noch ein langer Weg“, resümiert die Gefühlsdolmetscherin. Sie wird weiterhin versuchen, die Lebensqualität älterer Menschen zu verbessern und die Pflegebranche über das wichtige Grundbedürfnis aufzuklären und zu sensibilisieren.

Kontaktdaten

Marlis Lamers

E-Mail:

Telefonnummer: +49 152 0 39 41 850

Quellen
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