Nina de Vries: „Sexualassistenz sollte für jede*n zugänglich sein”

Sexualassistentin Nina de Vries
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Nina de Vries hat einen speziellen Beruf: Sie ist Sexualassistentin – und das schon seit über 22 Jahren. Den Beruf hat sie „sozusagen selbst erfunden“ – gilt als Pionierin der Sexualassistenz  – und bietet Menschen mit Beeinträchtigungen Berührungen an. Seit 1990 lebt sie in Berlin, kommt aber aus den Niederlanden. Dass Sexualität ein schambehaftetes Tabuthema sein kann, ist ihr als Niederländerin auch heute noch fremd. In Fortbildungen und auch Vorträgen versucht sie, über das Thema aufzuklären und so das Tabu zu brechen.

„Sexualassistenz ist eine Form der Sexarbeit”

Was bedeutet Sexualassistenz eigentlich? „Die offizielle Definition ist, dass es eine bezahlte sexuelle Dienstleistung für Menschen mit Beeinträchtigungen ist, ausgeführt aus einer transparenten und bewussten Motivation heraus“, erklärt Nina. Bei einer „bezahlten sexuellen Dienstleistung“ denken die meisten Menschen an Prostitution – und sie möchte sich davon auch nicht distanzieren. „Ich lehne Prostitution an sich nicht ab. Aber es ist ein Schimpfwort, das mit Selbstverwahrlosung, Missbrauch und Zwang konnotiert ist.“, sagt sie. Deswegen wählt sie ein neutraleres Wort: „Sexualassistenz ist eine Form der Sexarbeit.“

Sex und Küsse sind bei Nina tabu

Obwohl der Begriff “Sexualassistentin” oft mit Geschlechtsverkehr in Verbindung gebracht wird, erklärt de Vries, dass sie weder Geschlechtsverkehr noch Oralkontakt anbietet. Bei ihr geht es um Zärtlichkeit. In ihrer Arbeit bietet sie Massagen, Umarmungen und gegenseitige Berührungen und nackten Hautkontakt an. „Auf Wunsch berühre ich auch den Genitalbereich und bringe Menschen zum Orgasmus, wenn sie das wollen.“ Das Wichtigste dabei ist, die eigenen Grenzen zu kennen und zu respektieren, um dies auch bei anderen zu gewährleisten.

„Der menschliche Körper ist ein sexueller Körper mit Hormonen, Bewegungen, Gefühlen”

Die Niederländerin hat verschiedenste Klient*innen und ihr Angebot gilt für Männer und Frauen, die Handicaps haben. „Bei mir hat es sich so entwickelt, dass ich fast nur noch mit Menschen arbeite, die schwerst- oder mehrfach behindert oder auch psychisch und kognitiv eingeschränkt sind“, erläutert Nina. „Ich habe das Gefühl, dass mein Angebot da am besten passt.“ Sie arbeitet aber auch mit autistischen oder an Demenz erkrankten Menschen. Es sei wesentlich, dass auch Menschen mit Einschränkungen die Möglichkeit bekämen, in ihrer Sexualität wahrgenommen zu werden. „Sie haben einen menschlichen Körper und das ist ein sexueller Körper mit Hormonen, Sinnen, Bewegungen und Gefühlen.“ 

Ihre Dienstleistung wird nur Personen angeboten, die klar “Nein” sagen oder signalisieren können. „Wenn jemand nur daliegt und man nicht weiß, wie es ihm geht und ob man ihn berühren darf, muss man sofort anhalten. Sonst wäre es schnell Missbrauch, weil man nicht weiß, ob der andere das wirklich will.“

Sexualbegleitung als Wundermittel gegen Übergriffigkeit?

Geht es um Sexualität im Alter, ist die Sexualassistentin überwiegend bei alten Männern in Pflegeeinrichtungen gefordert, die demenzerkrankt sind und übergriffig wurden. Oft besteht die Hoffnung, dass die Übergriffigkeit aufhört, wenn Nina zu Besuch war. „Das ist aber nicht immer der Fall, denn da kann man nicht aktiv drauf hinarbeiten. Das finde ich unwürdig, es ist keine Therapie“, stellt sie klar. „Es ist eine Begegnung, eine Erfahrungsmöglichkeit.“ Wenn ein Mensch nur noch diese nonverbale Form hätte, um seine sexuellen Wünsche auszudrücken, könne man nicht von ihm verlangen, dass er nach einmal Sexualbegleitung wunschlos glücklich sei. „So funktioniert das einfach nicht.“ Dazu kommt: Sexualität passiert ganz viel im Kopf und das stellt für Menschen mit Demenz ein Problem dar. „Wenn die betroffene Person weiß, dass es da eine Person gibt, die regelmäßig kommt und einem regelmäßig Nähe und Berührung anbietet, ist das gut. Ist die Person jedoch dement und hat kein Kurzzeitgedächtnis mehr, wird sie wieder vergessen, dass es da jemanden gibt wie mich“, erklärt sie. Besonders wichtig ist es dann auch, mit dem Umfeld zu arbeiten, damit es sich nicht mit dem Thema überfordert fühle.

Pflegekräfte werden in der Ausbildung nicht auf sexuelle Übergriffe vorbereitet

Nina kritisiert auch die mangelnde Vorbereitung von Pflegekräften auf sexuelle Übergriffe in der Ausbildung. Sie fordert mehr sexualpädagogische Fortbildungen, um einen offeneren Umgang mit dem Thema zu ermöglichen. Die Einbindung von aktiver Sexualassistenz sollte in ein umfassendes Konzept eingebettet werden, um einen positiven Umgang mit Sexualität in Pflegeeinrichtungen zu fördern. Darin sollten Fragen beantwortet werden, wie zum Beispiel: „Welcher Stellenwert hat Sexualität für uns?“, „Sehen wir es als eine Ressource?“ „Was ist, wenn jemand übergriffig ist? Wer ruft dann die Sexualbegleitung an? Wie machen wir das, wenn jemand sexuelle Hilfsmittel braucht, z.B. einen Vibrator, erotische Lektüre oder Filme? Wie gehen wir damit um, wenn Beziehungen in der Einrichtung stattfinden?“

Nina wünscht sich, dass Sexualbegleitung als normale Dienstleistung in Pflegeeinrichtungen angeboten werden würde. „Es könnte so ein Angebot für Bewohner*innen sein wie Singen oder Friseur – nur dann halt „Sinnliche Berührung“. Dafür müssten sich Pflegeeinrichtungen und auch Pflegekräfte allerdings zuerst in einem geschützten Rahmen, wie einer Fortbildung, mit ihren Vorurteilen dem Thema gegenüber auseinandersetzen und gegebenenfallsdarüber reflektieren, warum sie damit ein Problem hätten.

Nicht jede*r kann sich ihre Dienstleistung leisten

„Berührung“ sollte für jede*n zugänglich sein. Aber: Sexualassistenz ist teuer und nicht jede*r kann sie sich leisten. Nina nimmt für Einzelsitzungen 120€ pro Stunde. Besucht sie Pflegeeinrichtungen in Berlin oder Potsdam, addiert sie noch die Fahrtzeit und -kosten, womit man bei 140-150€ liegt. Bei Menschen, die von Geburt an mit einer Behinderung leben, weicht sie manchmal auch von ihren regulären Preisen ab, weil diese oft sehr wenig Geld haben.

Aufklärung und Prävention mit Infoworkshops

Neben aktiver Sexualassistenz bietet sie Infoworkshops für Pflegeeinrichtungen an, um das Bewusstsein zu schärfen und das Tabu zu brechen. Ihre Kernbotschaft ist immer dieselbe: „Es geht darum, dass Menschen sexuelle Wesen sind und es ist nicht möglich, das einfach auszuklammern. Und darauf machen viele ältere Männer im Pflegebereich aufmerksam, die ihre Bedürfnisse nicht unterbinden können.“ Diese Bedürfnisse sollten erkannt werden und Pflegekräfte müssen wissen bzw. lernen, wie sie damit umgehen sollen. Es sei fatal für die Lebensqualität, wenn die Menschen einfach mit Psychopharmaka ruhiggestellt würden. Ihr Ziel ist es, mit ihren Workshops präventiv tätig zu werden und nicht erst dann gerufen zu werden, wenn bereits Probleme aufgetreten sind.

Quellen
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