„Sexualität betrifft jeden Menschen, in jedem Alter, in jeder Kultur, in jedem Lebensbereich.“ – Vanessa del Rae

Vanessa del Rae arbeitete jahrelang als Krankenschwester, Pflegedienstleiterin und Heimleiterin. Während ihrer Laufbahn waren Anzüglichkeiten und sexuelle Übergriffe seitens der Patient*innen fast an der Tagesordnung. Leider wurden viele Vorfälle nicht gemeldet, meist aus Scham. Das wollte Vanessa endlich ändern, das schambehaftete Thema sollte enttabuisiert werden. Ihre Mission: In Pflegeeinrichtungen muss über Sexualität geredet werden. So machte sie eine vierjährige Coachingausbildung und gründete die Berliner Sensuality School, an der sie Seminare, Workshops und Einzelcoachings zu den Themenbereichen Kommunikation, Sexualität und Sinnlichkeit anbietet. Was sie besonders freut: Pflegeeinrichtungen nehmen ihr Coaching dankbar an – und das ist gut, denn gerade dort wird es dringend benötigt.
„Dass Sexualität in der Pflege noch ein Tabuthema ist, läuft mir offene Türen ein”
Sie hat ihre Nische gefunden: Neben Highheels-Training und Striptease-Workshops ist die Arbeit mit Pflegeeinrichtungen ihr größtes Standbein. Über die Jahre hinweg hat sich Vanessa eine große Stammkundschaft mit ihrem Coaching für Sexualität und Kommunikation aufgebaut. Sie betreut sowohl kleine, als auch große Pflegeeinrichtungen und wird auch von stationären und ambulanten Pflegediensten gebucht, die regelmäßig ihre Mitarbeiter*innen coachen lassen möchten. Ebenso ist sie viel in Akademien zu Gast, die als weitere Multiplikatoren dienen. So reist Vanessa durch ganz Deutschland und erhält immer mehr Anfragen. „Ich freue mich, dass die Nachfrage so groß ist und die Leute neugierig auf die Themen sind, die ich anspreche.“
Häufigste Frage: „Wie geht man mit sexuellen Übergriffen um?”
Sexuelle Übergriffe werden am häufigsten von ihren Teilnehmer*innen in den Seminaren thematisiert. Dabei ist es Vanessa wichtig zu vermitteln, woher diese Vorfälle rühren. „Sexuelle Übergriffe sind so gut wie nie bösartig motiviert, dahinter steckt immer ein Bedürfnis“, erklärt die Coachin. Das sei vielen nicht klar. Aber woran sollen Pflegekräfte die sexuellen Bedürfnisse erkennen? Anzügliche Blicke und verbale Äußerungen sind offensichtlich, aber es gibt auch vieles Subtiles, was nicht unbedingt mit Sexualität in Verbindung steht. Ein Beispiel: Die Intimpflege. Sie ist selbstverständlich für Pflegekräfte. Allerdings müsste ihnen auch bewusst sein, dass sie dadurch etwas auslösen können. Wenn noch eine Demenz dazu kommt, wird es vertrackt: „Wie sollen das demenziell erkrankte Personen verstehen, wenn da mit schlafwandlerischer Selbstverständlichkeit mehrfach am Tag die Hosen runtergezogen werden und die Intimpflege gemacht wird? Wie sollen sie begreifen, dass dieser Mensch ihn/sie anfassen darf? Das sind dann sozusagen Steilvorlagen für Übergriffe“, erklärt Vanessa.
Sexueller Kontakt zwischen Bewohner*innen: Wann ist es Missbrauch?
Vanessa erlebt nicht nur viele Unsicherheiten, wenn es um den Umgang mit Übergriffen von Patient*innen auf Pflegekräfte geht. Auch die sexuellen Praktiken zwischen Bewohner*innen können Fragen aufwerfen, insbesondere wenn eine der beiden an Demenz erkrankt ist. Was können Pflegekräfte „durchgehen“ lassen und wann müssen sie einschreiten? Die Coachin skizziert zwei Beispiele:
- „Wie soll ich als Pflegekraft damit umgehen, wenn ein kognitiv gesunder Mann mit einer demenziell erkrankten Frau sexuell aktiv ist? Soll ich das unterbinden? Ich würde sagen: Man kann das lassen, wenn man feststellt, dass es der Frau damit gut geht. Allerdings sollte man ihr Verhalten gut beobachten. Wirkt sie anschließend verstört oder verändert, muss man ins Gespräch gehen. Dem Mann sollte man klarmachen, dass sie eine bedürftige bzw. auch abhängige Person ist und das dann Missbrauch wäre.“
- „Das krasse Gegenbeispiel: Die Frau ist demenziell erkrankt, ihr Ehemann ist kognitiv gesund. Wenn man dann mitkriegt hat, dass die Frau sich wehrt: Greift man in die Ehe ein oder nicht? Antwort: Ja, ganz klar, da muss man zwischengehen, um die Frau zu schützen. Das ist Vergewaltigung in der Ehe und das ist heute ein Strafbestand. Ganz simpel.“
Großes Problem: Viele Übergriffe werden als Kavaliersdelikte durchgewunken
Egal, ob sexuelle Übergriffe zwischen Patient*innen und Pflegekräften oder unter Bewohner*innen stattfinden – fest steht, dass viele Vorfälle gar nicht gemeldet oder ernst genommen werden. „Viele Situationen werden einfach als Kavaliersdelikte durchgewunken und nicht als Übergriff eingestuft. Das finde ich schlimm.“ Vanessa erzählt von einem Fall, den sie auf ihren Touren erfahren hat: Einer Mitarbeiterin ist bei einem Übergriff im Affekt die Hand ausgerutscht und sie hat dafür eine Abmahnung erhalten. „Das ist von Seiten des Arbeitgebers ein völliger Fehlschuss. Und das ist nur ein Fall von vielen, die mir täglich zu Ohren kommen.“
Probleme: Schweigen und „Feuertaufen”
Was resultiert daraus? Pflegekräfte schweigen oft über derartige Vorfälle. Dafür gibt es zahlreiche Gründe: Viele Pflegekräfte kommen aus anderen Kulturen, in denen noch viel konservativer mit Sexualität umgegangen wird. Außerdem denken viele, dass sie von ihrem Arbeitgeber nicht ernst genommen werden oder es einfach abgetan wird – wie es leider oft bei älteren Kolleg*innen der Fall ist. Dabei fallen dann Sätze wie „Das war doch nicht so schlimm.“ oder „Stell dich nicht so an.“ Das löst bei den Betroffenen oftmals ein Gefühl der Angst aus, sie fühlen sich der Situation nicht gewachsen und schämen sich. Zu ihrem Entsetzen hört Vanessa auch immer noch – wenn auch nur vereinzelt – Berichte von sogenannten „Feuertaufen“. Dabei würden jüngere Kolleg*innen extra in Zimmer geschickt werden, in denen Bewohner*innen leben, von denen bekannt ist, dass sie dazu neigen, sexuell übergriffig zu werden. „Eine Schweinerei, sowas darf einfach nicht sein!“, empört sich die Berlinerin.
Wie spricht man mit Angehörigen über die Sexualität der Bewohner*innen?
Noch eine andere Frage treibe Pflegekräfte um: Muss man mit Angehörigen über die Sexualität ihrer im Pflegeheim lebenden Familienmitglieder sprechen? Vanessa sieht das differenziert. Aus Erfahrung kann sie sagen, dass solche Gespräche herausfordernd sind und nicht selten in hitzigen Diskussionen enden. Oftmals möchten sich die Angehörigen gar nicht mit der Sexualität ihrer Eltern/Großeltern beschäftigen. „Das ist ein ganz schwieriges Thema und sehr sensibel für alle Beteiligten, da es auch um Selbstbestimmung geht. Warum sollten Angehörige darüber bestimmen können, ob ihre Eltern Sex haben dürfen oder nicht?! Und wenn eine Bewohnerin zum Beispiel sexuell aktiv ist, warum muss ich die Kinder darüber informieren?“, hinterfragt Vanessa. Sie ist der Meinung: Eigentlich gehe es die Angehörigen nichts an. Solange niemand dabei zu Schaden komme, sei das die Privatsache der Bewohner*innen – außer es geht ums Geld, wenn die Angehörigen die Betreuung haben und das Geld verwalten.
„Pflegeeinrichtungen benötigen Konzepte und Sexualbeauftragte”
Vanessa sieht die Einrichtungen im Zugzwang: Um Aufzuklären und Pflegekräften ihre Unsicherheiten und Überforderung zu nehmen, müssten Konzepte zum Umgang mit Sexualität entwickelt werden. „Es sollte auch in jeder Einrichtung Sexualbeauftragte geben“, wünscht sie sich. Als Ansprechpartner*innen sollten im besten Fall ein Mann und eine Frau zur Verfügung stehen, weil manche Personen Probleme haben, mit dem anderen Geschlecht über Sexualität zu sprechen. Neben Gesprächen sollte es auch zu ihren Aufgaben gehören, Dildos und Magazine zu kaufen oder eine Sexualbegleitung zu organisieren. „Ich wünsche mir wirklich, dass das irgendwann mal Früchte trägt“, so die Coachin. Bevor das passiert, wäre bereits ein erster Schritt gemacht, wenn im Team zuerst über Fallbesprechungen geredet werden würde, damit das Thema überhaupt besprochen wird. Ebenso sollten regelmäßig Sitzungen dazu eingeführt werden. „Das Thema braucht einen festen Platz in jeder Pflegeeinrichtung“, unterstreicht Vanessa del Rae.
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Quellen
- Website Vanessa del Rae: https://www.vanessadelrae.de/