Aggressive Patient*innen in der Pflege: 12 Deeskalationsstrategien für mehr Sicherheit

Zahlreiche Studien, darunter die BGW-Umfrage von 2017, zeigen, dass Gewalt in der Pflege keine Seltenheit ist. 94 % der befragten Pflegekräfte erlebten verbale Gewalt, während 70 % von körperlichen Übergriffen berichteten.
Die Belastung ist enorm, doch in solchen Situationen heißt es oft nur: „Ruhig bleiben und deeskalieren.“ Aber was bedeutet Deeskalation in der Pflege genau? Und wie kann ich als Pflegekraft professionell auf aggressive oder gewalttätige Patient*innen reagieren, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen? Das erfährst du in diesem Blogbeitrag.
Was heißt Deeskalation in der Pflege?
Der Begriff Deeskalation stammt ursprünglich aus der Militärsprache und bezeichnet die schrittweise Reduzierung eingesetzter Mittel. Während eine Eskalation einen Konflikt weiter verschärft, dient Deeskalation in der Pflege dazu, aggressive oder gewalttätige Situationen frühzeitig zu entschärfen.
Das Ziel ist es, Gewalt zu verhindern – sowohl seitens der Pflegenden als auch seitens der Patient*innen.
Grundprinzipien der Deeskalation:
1. Ruhe bewahren und eine kontrollierte Körpersprache einsetzen.
2. Patient*innen ernst nehmen und ihnen genügend Raum lassen.
3. Bedrohliche Gesten vermeiden und keine abrupten oder aggressiven Bewegungen machen.
4. Aufmerksam zuhören und frühzeitig Anzeichen von Unruhe erkennen.
Ein professioneller Umgang mit herausforderndem Verhalten schützt sowohl Pflegekräfte als auch Patient*innen und trägt zu einer sicheren Arbeitsumgebung bei: Du merkst, dass eine*r Patient*in unruhig wird – die Atmung wird schwerer, die Fäuste werden geballt, der Blickkontakt wird vermieden. Du erkennst dies als erste Anzeichen einer Eskalation. Statt die Person direkt zu konfrontieren, sprichst du sie ruhig mit Namen an und begibst dich auf Augenhöhe. Dadurch fühlt sie sich nicht bedrängt und die Situation entspannt sich.
Ein wesentlicher Punkt: Aggressive Reaktionen sind meist nicht persönlich gemeint. Sie sind Ausdruck von Überforderung, Angst oder Schmerz. Dieses Bewusstsein hilft, ruhig zu bleiben und angemessen zu reagieren.
Bewährte Methoden zur Deeskalation in der Pflege
In herausfordernden Situationen können Pflegekräfte gezielt auf wissenschaftlich fundierte Methoden zurückgreifen:
5. Low-Arousal-Ansatz: Ziel ist es, frühzeitig steigende Erregung zu erkennen und Spannungen bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu reduzieren. Der Ansatz fokussiert sowohl den Umgang mit herausforderndem Verhalten als auch die Reflexion der eigenen Haltung. Pflegekräfte werden angeregt, ihre Toleranzgrenzen zu überdenken und Anforderungen an die betreuten Personen anzupassen.
6. Gewaltfreie Kommunikation: Diese Methode von Marshall B. Rosenberg hilft, durch klare und einfühlsame Sprache Konflikte zu entschärfen und Beziehungen zu stärken. Sie besteht aus der Artikulation von Beobachtungen, Gefühlen, Bedürfnissen und Bitten. Statt „Sie dürfen das nicht!“ lieber: „Ich mache mir Sorgen um Ihre Sicherheit.“
7. Validation: Dieses Modell von Naomi Feil ist eine Kommunikationsmethode, die besonders im Umgang mit desorientierten Patient*innen Anwendung findet. Durch empathisches Eingehen auf die Gefühlswelt der Betroffenen sollen ihre Würde gewahrt und ihr Stress reduziert werden. Statt „Nein, Herr Schmidt, Ihre Frau ist nicht hier!“, könntest du sagen: „Erzählen Sie mir von Ihrer Frau. Wie war sie?“ – Das nimmt die Spannung und beruhigt.
Diese Methoden sind besonders wertvoll für den Pflegealltag, doch was ist zu tun, wenn eine Situation bereits eskaliert?
Wie reagiere ich auf gewalttätige Patient*innen?
Falls Deeskalationsmaßnahmen nicht ausreichen und Patient*innen aggressiv werden, empfiehlt die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) folgende Maßnahmen:
8. Abstand wahren: Mindestens eine Armlänge, um sich vor plötzlichen Angriffen zu schützen.
9. Zeit gewinnen: Nicht überstürzt handeln, sondern Ruhe bewahren, um durchdachte Entscheidungen zu treffen.
10. Empathie und Respekt zeigen: Verständnis für die Situation kann helfen, die Aggression zu mindern.
11. Ruhig und bestimmt sprechen: Eine tiefe, ruhige Stimme signalisiert Kontrolle und wirkt deeskalierend.
12. Verbündete einbeziehen: Falls die Situation eskaliert, sollte Unterstützung durch Kolleg*innen, die Leitung oder (falls nötig) die Sicherheitskräfte geholt werden. Eine zweite Person kann helfen, die Lage zu entschärfen und als Zeug*in für eine spätere Meldung des Vorfalls zu dienen.
Praxisbeispiel: Eine verwirrte Person ruft laut nach ihrer Tochter, spricht hektisch und schlägt gegen das Bettgitter. Du versuchst, sie zu beruhigen, indem du bestimmend sagst: „Beruhigen Sie sich bitte! Ihre Tochter ist nicht hier.“ Doch statt sich zu entspannen, wird die Person aggressiver, reißt an den Schläuchen, schreit und versucht aufzustehen. Als du sie körperlich zurückhältst, schlägt sie um sich – und trifft dich.
In einer solchen Situation hätte es geholfen, die Emotionen der Person zu validieren, statt sie zu korrigieren. Ein ruhiger Satz wie „Sie vermissen Ihre Tochter. Erzählen Sie mir von ihr.“ hätte ihr das Gefühl gegeben, ernst genommen zu werden. Eine offene, nicht bedrängende Körperhaltung sowie eine frühzeitige Unterstützung durch Kolleg*innen hätten zusätzlich zur Deeskalation beitragen können.
Psychische Folgen & Umgang mit Gewalterfahrungen
Gewalterfahrungen in der Pflege können tiefe Spuren hinterlassen. Um langfristige Belastungen zu vermeiden, ist es entscheidend, das Erlebte nicht zu verdrängen, sondern aktiv zu verarbeiten. Ein offener Austausch im Team kann helfen, Strategien für zukünftige Situationen zu entwickeln und das Sicherheitsgefühl zu stärken. In schweren Fällen sollten Pflegekräfte nicht zögern, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Wird Gewalt nicht aufgearbeitet, kann das schwerwiegende Folgen haben. Laut der Psychotraumatologin Claudia Vaupel neigen Betroffene dazu, sich selbst die Schuld zu geben oder gar zu hinterfragen, ob sie für den Beruf geeignet sind. Langfristig kann dies zu Depressionen, Schlafstörungen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen.
Fazit: Mit Respekt und Deeskalation Konflikte in der Pflege entschärfen
Gewalt in der Pflege ist eine ernstzunehmende Herausforderung. Ebenso wie ein respektvoller Umgang im Team entscheidend ist, spielt auch Respekt gegenüber Patient*innen eine zentrale Rolle. Nur durch gegenseitige Wertschätzung kann eine vertrauensvolle und sichere Umgebung geschaffen werden.
Durch die richtigen Deeskalationstechniken und professionellen Umgang lassen sich viele Konflikte entschärfen, bevor sie eskalieren. Dennoch ist es wichtig, sich selbst zu schützen und Unterstützung zu holen, wenn eine Situation außer Kontrolle ist – sei es durch Kolleg*innen, die Leitung oder externe Sicherheitskräfte.
Welche Erfahrungen habt ihr mit aggressiven Patient*innen gemacht? Habt ihr diese oder andere Strategien bereits angewendet? Teilt eure Erfahrungen in den Kommentaren – ein offener Austausch hilft uns allen!
Hast du in deinem Arbeitsalltag bereits Gewalt erlebt?