Medical Gaslighting – Was Pflegekräfte tun können, wenn Ärzt*innen versagen

Älterer Arzt mit weißem Bart und ernstem Blick steht mit verschränkten Armen in weißem Kittel und Stethoskop um den Hals.
Speichern

Die meisten Menschen ziehen den Ärzt*innenbesuch meist nur dann in Betracht, wenn sie an ernsten Beschwerden leiden. Umso ärgerlicher ist es, wenn die Symptome nicht ernst genommen und heruntergespielt werden. Das Problem ist weit verbreitet und wird als „Medical Gaslighting“ bezeichnet. Laut einer Umfrage von HealthCentral aus dem Jahr 2023 haben 94 % aller Patient*innen bereits Erfahrungen damit gemacht.

Wir haben unsere Pflege-Community befragt und die Zahlen sind fast identisch: 93 % hatten das Gefühl, dass ein Arzt oder eine Ärztin die Beschwerden nicht ernst genommen hat. In 80 % der Fälle stellten sich diese als Symptome für eine Krankheit heraus. Ganze 86 % gaben an, dass auch die Pflegebedürftigen auf ihrer Station Erfahrungen mit Medical Gaslighting gemacht haben.

Was ist Medical Gaslighting?

Der Begriff „Gaslighting“ wird in der Psychologie bereits länger als Bezeichnung für eine bestimmte Art der psychologischen Manipulation genutzt: Der/die Manipulateur*in täuscht das Gegenüber gezielt durch das Leugnen und Verzerren der Realität, das Verdrehen von Fakten oder durch die Bagatellisierung von Emotionen. Gaslighting steht häufig in Zusammenhang mit Partnerschaft, Freundschaft oder dem Berufsleben.

Der Begriff hat seinen Ursprung im britischen Theaterstück „Gas Light“ von Patrick Hamilton aus dem Jahr 1938, welches später verfilmt wurde. In der Geschichte verfolgt ein Mann das Ziel, seine Frau an ihrer Wahrnehmung zweifeln zu lassen. Dazu manipuliert er sie unter anderem dadurch, dass er die Gaslichter im Haus dimmt und dann bestreitet, dass sich die Helligkeit verändert hat. Daher kommt auch die Bezeichnung „Gaslighting“.

Medical Gaslighting ist eine Erweiterung des Begriffs auf das Verhalten von Ärzt*innen gegenüber Patient*innen und beschreibt eine Handlung, bei welcher die Symptome und Beschwerden einer/eines Patient*in ohne angemessene medizinische Untersuchung abgetan oder heruntergespielt werden. In den letzten Jahren fand der Begriff zunächst umgangssprachlich Gebrauch. Erst im September 2020 wurde er das erste Mal im Kontext wissenschaftlicher Fachliteratur, im Zuge eines Berichts über einen Long-Covid-Fall, verwendet. Typische Folgen von Medical Gaslighting sind falsche oder teilweise komplett ausbleibende Diagnosen – in der Pflege fatal. Der Unterschied zum traditionellen Gaslighting besteht darin, dass im medizinischen Kontext dem Fehlverhalten meist keine bewusste Täuschungsabsicht zugrunde liegt. Stattdessen hat Medical Gaslighting in der Regel andere Ursachen:

Häufige Gründe für Medical Gaslighting

1. Medical Gaslighting tritt häufig bei Patient*innen mit chronischen, unspezifischen Beschwerden auf. Die Unwissenheit der Hausärzt*innen führt dann oft dazu, dass diese als „psychologisch“ oder in schlimmeren Fällen als „Einbildung“ abgetan werden.

2. Auch implizite Vorurteile oder Stereotype seitens der Ärzt*innen können Medical Gaslighting verursachen oder bestärken. Besonders Frauen sind häufig davon betroffen. Viele, vor allem ältere, männliche Ärzt*innen hegen immer noch das Vorurteil der „hysterischen Frau“. Historisch gesehen ist das Gesundheitssystem ebenfalls auf Männer ausgelegt, was als Gender Health Gap bezeichnet wird. Bestimmte frauenspezifische Krankheitsbilder, wie zum Beispiel die Symptome des Herzinfarkts bei Frauen, sind noch nicht so gut erforscht und können einer akkuraten Diagnose im Weg stehen. Ebenfalls sind LGBTQ-Personen und ethnische Minderheiten häufiger vom Problem betroffen. In den USA beispielsweise galt lange die Vermutung, dass afroamerikanische Patient*innen ihre Symptome lediglich vortäuschen, um an Medikamente zu kommen. Bei älteren Menschen hingegen werden Erkrankungen teilweise nicht diagnostiziert, da die Symptome als typischer Teil des Alterns verharmlost werden.

3. Das Festhalten an veralteten, überholten Werten der medizinischen Praxis kann Medical Gaslighting zur Folge haben. Der/die Ärzt*in hält dann an seiner/ihrer Meinung fest, obwohl diese längst überholt ist. Dies resultiert aus einem mangelnden Bewusstsein oder Verständnis für aktuelle Definitionen von Krankheitsbildern.

4. Manchmal ist schlicht der Zeitdruck ein Problem: Bei unspezifischen Symptomen kann es schwer und zeitintensiv sein, genau zu bestimmen, woher die Beschwerden kommen. Kopfschmerzen beispielsweise können durch eine Vielzahl von Krankheitsbildern bedingt werden – von Eisenmangel bis hin zu Long-Covid.

So kannst du Medical Gaslighting erkennen

Grundsätzlich müssen Beschwerden nicht immer auf eine ernsthafte Erkrankung hindeuten. Allerdings lohnt es sich, auf bestimmte Hinweise zu achten. Solltest du eine der folgenden Verhaltensweisen beobachten oder sollten Patient*innen davon berichten, könnte Medical Gaslighting vorliegen:

1. Unaufmerksamkeit: Der/die Ärzt*in hört beim Gespräch nicht richtig zu oder unterbricht dich oder den/die Patient*in ständig.
2. Bagatellisierung: Immer wiederkehrende Symptome werden heruntergeredet und nicht ernst genommen.
3. Verschiebung: Die Symptome werden auf andere Faktoren wie Alter, Gewicht, Lebensstil oder Geschlecht geschoben, ohne dass hierfür eine angemessene Begründung vorliegt.
4. Zeitmangel: Wenn der/die Ärzt*in sich nicht ausreichend Zeit nimmt oder gehetzt wirkt, kann dies ein Anzeichen für akuten Personal- und damit Zeitmangel in der Praxis sein. In solchen Situationen kann es schnell zu Fehldiagnosen kommen.

Typische Medical Gaslighting-Sprüche:

• „In Ihrem Alter ist das ganz normal.“
• „Das geht von allein wieder weg, warten Sie einfach ab.“
• „Sie sehen doch gesund aus!“
• „Das ist so selten, das können Sie gar nicht haben.“
• „Das ist nur Stress, entspannen Sie sich einfach mal.“

So solltest du handeln!

Als Pflegekraft bist du zunächst eine der wichtigsten Bezugspersonen für deine Patient*innen. Solltest du mitbekommen, dass einer von ihnen sich unzureichend ärztlich betreut oder nicht ernst genommen fühlt, solltest du stets ein offenes Ohr haben. Achte auf Zeichen wie zum Beispiel frustrierte Ausrufe der betroffenen Person oder ein sich verschlechternder Gesundheitszustand. Stelle selbst Beobachtungen an und dokumentiere die Symptome genau. Informiere den/die gesetzlichen Betreuer*in und gib ihm/ihr die Aufzeichnungen mit. Sprich dich ebenfalls mit Kolleg*innen, Fachkräften sowie der Pflegedienstleitung ab. Versuche in Erfahrung zu bringen, ob andere ebenfalls solche Beobachtungen gemacht haben.

Wenn die Beschwerden der/des Patient*in weiter anhalten und keine ärztliche Hilfe in Aussicht ist, solltest du dich mit Fachkräften absprechen, wie weiter vorzugehen ist. Empfehlenswert ist, zunächst zu versuchen, ein Gespräch mit der/dem Ärzt*in zu führen. Recherchiert selbst, welche Ursache die Symptome haben könnten und versucht, den/die Ärzt*in dafür zu sensibilisieren. Falls der/die Ärzt*in diese auf andere Faktoren wie etwa das Alter schiebt, fragt nach, wie er/sie darauf kommt. Sollte er/sie sich trotzdem weigern, eine angemessene Behandlung zu gewährleisten, macht ihm/ihr bewusst, dass er/sie nach dem hippokratischen Eid dazu verpflichtet ist, die Gesundheit seiner/ihrer Patient*innen zu respektieren. Versucht dabei stets höflich zu bleiben und vermeidet einen brachialen Konfrontationskurs.

Wenn alle Stricke reißen, bleibt nur, die Arztpraxis zu wechseln. Dies können Pflegefachkräfte allerdings nicht eigenmächtig entscheiden: Geschäftsfähige Patient*innen haben selbst das Recht auf freie Arztwahl. Sollten Patient*innen nicht mehr einwilligungsfähig sein, geht die Arztwahl auf die gesetzlichen Betreuer*innen oder Vormundschaften über. Kommunikation ist also in diesem Fall von größter Wichtigkeit – das Wohl der betroffenen Person geht schließlich vor.

Fazit

Medical Gaslighting kann ernsthafte Folgen für Patient*innen haben. Bestimmte Krankheiten können viel zu spät oder teilweise gar nicht diagnostiziert werden, was für die sowieso schon angeschlagenen Pflegebedürftigen katastrophale Folgen haben kann. Als Pflegekraft solltest du stets wachsam sein und selbst auf die Beschwerden und den Gesundheitszustand deiner Patient*innen achtgeben, um dort zu helfen, wo Ärzt*innen versagen.

Speichern
0
0
Speichern
0
0