Anlässlich des bevorstehenden Welt Autismus Tages, am 2. April, räumen wir mit Klischees und Vorurteilen auf und wollen euch die vielseitige Welt von Autist*innen näher bringen. Autismus ist mehr als nur eine Krankheit und viele gehen von falschen Tatsachen aus. Nach aktuellem Stand sollen 1% der gesamten Weltbevölkerung von Autismus betroffen sein. Wie ist es wirklich mit einem autistischen Kind zusammen zu leben? Wir haben mit Betroffenen und Angehörigen gesprochen, um das Leben mit Autismus besser zu verstehen und Vorurteile gegen Fakten auszutauschen. Seid gespannt auf Nadines, Nurgüls, Melanies und Merys Erfahrungen und bereit für ein besseres Verständnis.
Mehr als eine Krankheit
Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung bezeichnet. Diese äußert sich, entgegen der allgemeinen Meinung, durch verschiedene Formen. Die Symptome werden unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen kurz (ASS) zusammengefasst. So gehen viele Menschen davon aus, dass Autismus mit dem Asperger Syndrom gleichzustellen ist. Gerade die Berühmtheit um Greta Thunberg hat die Menschen etwas mehr auf das Thema aufmerksam gemacht, jedoch gleichzeitig auch das Klischee bedient. Autismus äußert sich in verschiedenen Formen – das Asperger-Syndrom ist nur eine Variante des Autismus. Durch Therapien und spezielle Trainings können Betroffene übrigens lernen besser mit Autismus umzugehen. Heilbar ist es jedoch nicht.
Authentische Einblicke in das Leben eines Autisten
Auf Instagram gibt es einige Profile, die mit dem Thema offen und ehrlich umgehen. Eines davon gehört Nadine, sie nennt ihren persönlichen Blog liebevoll “autismus_familie” und nimmt ihre Follower*innen mit in ihren Alltag. Dabei lässt sie kein Detail aus und spricht auch über die Situationen, die anstrengend oder einfach etwas anders als üblich sind. „Als Mama eines Autisten ist es nicht immer einfach. Es gibt viele Hürden, die es schon im Kleinkindalter zu überwinden gilt. Diagnosen zu erhalten, geeignete Therapien finden, die passende Kita oder Schule suchen, all das belastet Mamas von Autist*innen ganz bestimmt mehr als andere.”
Aber nicht nur diese Entscheidungen können belastend sein. Nadine erzählt uns auch von den unschöneren Momenten und spricht offen über ihr Gefühlschaos, denn auch das gehört zum Leben mit Autismus dazu. „Es gibt auch Schuldgefühle, weil sich das Kind nicht so entwickelt, wie es die Normen vorschreiben. Weil es nicht so ist, wie es die Gesellschaft erwartet. Das äußert sich dann in Meltdowns, Wutausbrüchen und allgemeinen Aggressionen. On top kommen noch Vorurteile. Alle Autist*innen sollen angeblich hochbegabt sein, so sein wie Rain Man, ein spezielles Interesse haben. So ist es aber nicht. Sie sind so einzigartig wie alle. Sie sind liebenswert und auch liebevoll: Ja, sie haben Gefühle! Sie wissen nur nicht wie sie diese ausdrücken sollen.” Sie erzählt uns außerdem, das es viel Mut und Stärke braucht, um gegen Vorurteile anzukämpfen. Mit ihrer Einstellung und einfühlsamen Art und Weise scheint das aber auch kein Problem zu sein.
Hattest du schon einmal Vorurteile gegenüber Autisten oder Autistinnen?
“Diese Special Effects hatten plötzlich einen Namen”
Auch Nurgül nimmt ihre Follower*innen auf Instagram täglich, in ihrem Leben mit ihrem Sohn Kaya, mit und macht so auf das Thema aufmerksam. “Das ich Mama eines autistischen Kindes bin weiß ich mittlerweile seit knapp 4 Jahren. Am Anfang, als der Begriff Autismus gefallen ist, waren wir etwas verwirrt. Wir haben uns direkt Informationen eingeholt von Büchern, im Internet, bei Bekannten. Je mehr wir über das Thema in Erfahrung gebracht haben, umso mehr konnten wir unseren Sohn verstehen und diese „Special Effects“ hatten plötzlich einen Namen.”
Diese Special Effects, wie sie sie liebevoll nennt sind die Verhaltensweisen von Kaya. Aber mit den Jahren habe Nurgül immer mehr Verständnis dafür aufgebracht und kann nun viel besser mit der Situation umgehen. Was eventuell viele falsch machen, hat sie genau richtig gemacht. Denn, als wir sie fragen ob sie bereits schlechte Erfahrungen sammeln musste, antwortete sie: „Schlechte Erfahrungen mit unserem Umfeld haben wir zum Glück bisher nicht gemacht. Sobald wir wussten, dass Kaya Autist ist, haben wir unsere Familie, Freunde und Bekannte darüber informiert und aufgeklärt und somit war jeder darauf eingestellt.” Viele trauen sich diesen Schritt nicht und schämen sich vielleicht für Momente oder Verhaltensauffälligkeiten. Darüber offen und ehrlich zu sprechen ist jedoch die beste Medizin.
„Ich wollte verstehen warum er Dinge macht, wie er sie macht.”
Autismus_unser_neues_Leben, so nennt sich das Instagram Profil von Melanie. In regelmäßigen Abständen nimmt auch sie ihre Follower*innen mit in ihr Leben und gibt Einblicke in die vielen Momente mit ihrem autistischen Sohn. Am Anfang war sie noch sehr überfordert, doch mit der Zeit und Erfahrung kam alles anders. „Viele Begriffe waren neu und einige Formalitäten haben mich zunächst eingeschüchtert. Wir haben uns aber nicht entmutigen lassen”, sagt uns die Mutter zweier Kinder. Es ist wichtig, dass man versucht sich in die andere Person hineinzuversetzen. Autist*innen haben eine komplexe Gefühlswelt und auch wenn sie sich schwerer tun diese auszudrücken, kann man mit der richtigen Herangehensweise in ihre Welt eintauchen. Mittlerweile sind Melanie und ihr Sohn ein eingespieltes Team. „Ich wollte verstehen warum er Dinge macht, die er sie macht und ich wollte wissen, wie ich sein Leben ein Stück einfacher gestalten kann. Heute, knapp 3 Jahre später, haben wir uns sehr gut zurecht gefunden. Obwohl sein Wortschatz allmählich wächst und er seine Wünsche zumindest grob benennen kann, verstehen wir uns meist auch ohne Worte.”
Die Löwenmama erzählt uns auch, dass es schwierig ist, zu sehen dass ihr Sohn, nicht wie die anderen Jungs mehrere Freunde hat. Etwas was ganz normal im Leben eines Autisten ist, aber gerade für Eltern schwer zu verdauen ist. Sie erklärt uns das so: “Das ist aber auch nur meine Befindlichkeit. Es fällt mir noch schwer zu akzeptieren, dass es aktuell für ihn völlig in Ordnung ist, wie es ist. Er scheint es nicht zu vermissen. Sollte sich das einmal ändern, wünsche ich ihm einen Freund, der in ihn all das sieht, was ich in ihm sehe.” Genau diese Denkweise kann vielen Eltern da draußen Kraft geben, es ist wichtig zu verstehen, wie das Ganze für die betroffene, autistische Person ist.
„Eine Lebenswelt nach ihren Bedürfnissen schaffen”
Eine weitere Sichtweise bringt die Sozialpädagogin Mery. Nach Abschluss ihres Studiums hat die 26-Jährige in einer Autismusambulanz als Autismustherapeutin angefangen. „Ich war so fasziniert von der Arbeit mit Autist*innen, dass es mir eine Herzensangelegenheit wurde.” Für Mery gibt es kein richtig oder falsch, es gäbe nicht den einen “Autismus” und nicht jeder Betroffene weist eine Gemeinsamkeit auf aber genau das macht es auch so komplex aber dennoch interessant. “Es ist wichtig für Bezugspersonen, die Stärken und Schwächen zu erkennen, um so den Betroffenen eine Lebenswelt nach ihren Bedürfnissen zu schaffen. Wir sollten ihnen eine Umwelt schaffen, wo sie ihre Stärken entfalten können und wo ihre Schwächen berücksichtigt werden”
Es ist also ein Zusammenspiel aus Geduld und Individualität. Zwar ist Autismus nicht heilbar, jedoch erzählt sie uns von einem ganz besonderen Fall: „Einer meiner Klienten hat frühkindlichen, nonverbalen Autismus. Als ich ihn kennen gelernt habe, konnte er „nur“ die Anfangssilben bestimmter Wörter aussprechen. Ich hatte aber von Anfang an gemerkt, dass er großes Interesse daran hatte, sich mitzuteilen.” Mit einem Talker, einer Art sprechendem Tablet, konnte ihr Klient sich bereits sehr gut mitteilen aber sie erzählt uns, dass sie den Schwerpunkt etwas verändert habe und die Therapie mehr auf Kommunikation bzw. auf die Wunschäußerung gelegt hat. Mit Erfolg: „Mittlerweile kann er in drei-Wort Sätzen sprechen. Zwar kann er die Wörter nicht perfekt aussprechen, allerdings ist schon das Aneinanderreihen von drei zusammenhängenden Wörtern ein großer Erfolg für einen Klienten mit frühkindlichem Autismus.” Das zeigt nur mehr auf, wie wichtig es ist, die Stärken von Betroffenen zu fördern.
Offen sein und ohne Vorurteile an Autist*innen herantreten
Alle vier sind sich einig, der Umgang mit Autist*innen kann zwar ungewohnt sein, jedoch gewinnt man stets mit Offenheit, Freundlichkeit und vor allem Geduld und Akzeptanz etwas Nähe. Es ist völlig normal, dass Betroffene nicht direkt antworten, das sollte man aber keinesfalls als Ablehnung sehen, es ist eben auch eine Art von Kommunikation. Eigentlich sind sie gar nicht so unterschiedlich zu Anderen, Nadine hat das ganz geschickt ausgedrückt: „Viele sind gesprächig, freuen sich darüber. Einige jedoch können es nicht ertragen wenn ihnen dabei in die Augen geschaut wird, das ist ihnen unangenehm.” Auf solche Signale sollte man achten und mit viel Geduld an Autist*innen herangehen. Melanie gibt uns außerdem den Tipp, eben genau das Verhalten anzuwenden, dass man auch für sich selbst wünscht und „im besten Fall kommt etwas Gutes dabei heraus.”