Queerfreundliche Pflege: Diversitätsbeauftragter Ralf Schäfer im Interview
Queerness und Diversität werden in unserer Gesellschaft immer sichtbarer. In vielen Pflegeeinrichtungen sind Stereotype und Vorurteile allerdings noch immer an der Tagesordnung. Diese können zu unbewussten Diskriminierungen führen, die besonders ältere LSBTIQ*-Personen betreffen. Die meisten von ihnen haben in ihrem Leben bereits zahlreiche Herausforderungen und Diskriminierungserfahrungen durchleben müssen. Umso wichtiger ist es, Pflegekräfte, Pflegeeinrichtungen und Angehörige für queerfreundliche Pflege zu sensibilisieren.
Wir haben mit Ralf Schäfer, dem Diversitätsbeauftragten der Immanuel Albertinen Diakonie in der Sparte Wohnen und Pflegen, gesprochen. Zur Immanuel Albertinen Diakonie gehört unter anderem das Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg, das als erste Pflegeeinrichtung mit dem Qualitätssiegel „Lebensort Vielfalt“ für queersensible Pflege ausgezeichnet wurde.
Ralf Schäfer gehört selbst zur LSBTIQ*-Community und engagiert sich seit mehreren Jahren für queerfreundliche Pflege. In einem Gespräch hat er uns erklärt, was queerfreundliche Pflege ist und wie sie pflegerisch umgesetzt werden kann.
Was motiviert dich, dich für queere bzw. queerfreundliche Pflege zu engagieren?
Ralf Schäfer: Bei dieser Frage gibt es mehrere Aspekte. Zum einen definiere ich mich selbst als queer und habe mir bereits als junger Mensch Gedanken gemacht, wie ich selbst als schwuler Mann im Alter einmal leben und gepflegt werden möchte. Auch wenn die Akzeptanz queerer Vielfalt in den letzten Jahren größer geworden ist, treffe ich auch heute noch in Pflegeeinrichtungen auf Vorbehalte, Unwissenheit und Vorurteile, die in Diskriminierung enden können. Ganz oft ist es Mitarbeitenden gar nicht bewusst, dass sie sich auf der persönlichen Ebene verletzend äußern oder verhalten.
Ein anderer Aspekt ist, dass in Pflegeeinrichtungen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt oft nicht als Teil der Gesellschaft gesehen und in den Strukturen und Prozessen somit auch nicht berücksichtigt werden. Mitarbeitenden fehlen daher häufig eine Orientierung und klare, handlungsleitende Vorgaben für die berufliche Praxis. Mir ist wichtig, durch mein Engagement auf solche fehlenden Strukturen hinzuweisen, sie zu entwickeln und bestehende auszubauen. Ebenso wichtig ist es, Mitarbeitende zum Thema Diversität Wissen zu vermitteln und sie zu sensibilisieren. Gerade bei den aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen ist es umso wichtiger, dass wir diskriminierungsfreie Arbeits- und Wohnwelten schaffen und erhalten.
Kannst du uns mehr über die Entwicklung des Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg erzählen? Wie kam es dazu, dass ihr euch auf queerfreundliche Pflege spezialisiert und euch für das Lebensort-Vielfalt-Siegel beworben habt?
Ralf Schäfer: Das Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg befindet sich inmitten eines Berliner Stadtteils mit Europas größter queerer Community. Dadurch hatten wir am Standort schon immer Berührung mit queeren Lebenswelten und haben einen Bedarf an Safer Spaces, also an sicheren Orten, im Kontext von vollstationärer Pflege erkannt. Mit Schulungen zu Lebensrealitäten von LSBTIQ* haben wir bereits 2012 begonnen, Mitarbeitende zu sensibilisieren. Diese Workshops wurden damals von Mitarbeitenden der Schwulenberatung Berlin durchgeführt.
Neben dieser inhaltlichen Auseinandersetzung mit queeren Lebenswelten innerhalb der Einrichtung sind wir aber auch nach außen sichtbar auf dem lesbisch-schwulen Stadtfest in Schöneberg mit einem Infostand vertreten. Wir haben von Bewohnenden und Mitarbeitenden ein gutes Feedback und Zustimmung für unsere Bemühungen erhalten.
Als wir dann über die Schwulenberatung Berlin, die auch das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt vergibt, auf das Zertifizierungsprogramm aufmerksam gemacht worden sind, war unsere Entscheidung recht schnell getroffen. Wir wollten unser Engagement mit einer Zertifizierung nachhaltig festigen. Das ist uns 2018 mit Erhalt des Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt als bundesweit erste Pflegeeinrichtung gelungen. 2021 hat das Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg dann auch den deutschen Pflegepreis in der Kategorie Respekt und Vielfalt erhalten. Es ist also ein Prozess, der immer noch anhält, denn aktuell bereiten wir uns auf die zweite Rezertifizierung im kommenden Jahr vor. Das Siegel wird immer für drei Jahre verliehen. Wenn Einrichtungen erneut zertifiziert werden wollen, müssen sie an dem Thema dranbleiben.
Welche besonderen Bedürfnisse und Herausforderungen haben queere Personen in der Pflege, die in nicht-queersensiblen Pflegeeinrichtungen oft übersehen werden?
Ralf Schäfer: Es sind unterschiedliche Bedarfe, die sich zeigen. Im Kern geht es darum, wahrgenommen, anerkannt und respektiert zu werden. Viele ältere LSBTIQ* haben in ihrem Leben Diskriminierungserfahrungen gemacht, die selbstverständlich auch im Alter noch nachwirken. Biographien der Generation queerer Senior*innen aus der Nachkriegszeit sind deutlich geprägt von Kriminalisierung, Pathologisierung, Gewalt und familiären Brüchen. Diese Generation hat sich oftmals ihr Leben lang versteckt, ein offener Umgang mit ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität ist für sie keine Selbstverständlichkeit.
Dann gibt es die Generation, welche die Emanzipationsbewegung ab den 1970ern erlebt und mitgestaltet hat. Diese hat für ihre Rechte und gesellschaftliche Akzeptanz aktiv gekämpft und große Veränderungen bewirken können. Die LSBTIQ*- Senior*innen, die diese Zeit erlebt haben, gehen mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität schon offensiver um und fordern auch eher entsprechende Versorgungsstrukturen.
Um das deutlich zu machen: §175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, wurde erst Anfang der 1990er abgeschafft, Homosexualität wurde als neurotische Störung erst 1990 aus der internationalen Krankheitsklassifikation, dem ICD-Schlüssel der WHO, entfernt. Trans* und intergeschlechtliche Menschen waren und sind nochmals in besonderem Maße Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt. Das Transsexuellengesetz, welches 2011 in weiten Teilen als verfassungswidrig eingestuft wurde, wird erst in diesem Jahr durch das Selbstbestimmungsgesetz ersetzt und Transidentität wird erst seit 2022 nicht mehr als mentale Störung oder Verhaltensstörung im ICD Schlüssel der WHO gewertet.
In Umfragen wird immer wieder deutlich, dass queere Menschen und unter ihnen gerade diese beiden genannten Generationen häufig die Befürchtung haben, im Alter und im Besonderen bei Pflegebedürftigkeit erneut Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt zu sein. Sehr ausgeprägt ist neben dem Wunsch nach Akzeptanz, einem offenen Austausch zu den Lebenserfahrungen und ‚safer spaces‘, auch das Bedürfnis nach einem offenen Umgang mit oftmals tabuisierten Themen. In der Regel spiegelt sich in den Einrichtungen die hetero- und cis-normative Prägung der Gesellschaft wider, verbunden mit Unwissenheit, Ängsten und Vorbehalten bei Führungskräften und Pflegemitarbeitenden.
Wie unterscheidet sich eine queersensible Pflegeeinrichtung von einer nicht-queersensiblen Pflegeeinrichtung?
Ralf Schäfer: Unterschiede gibt es auf verschiedenen Ebenen einer Einrichtung. Nicht nur im direkten Bezug auf Pflege und Versorgung der Bewohnenden und der Berücksichtigung ihrer Lebenswelten, sondern auch im Bereich der Unternehmenspolitik, der Kommunikation und des Personalmanagements oder hinsichtlich Transparenz und Sicherheit. Zu all diesen Punkten führen queersensible Einrichtungen Maßnahmen durch, und sie weisen deutlich sichtbarer auf gelebte Diversität hin. Deutlich machen lässt sich das zum Beispiel an der Sprache. Es ist wichtig, eine gendersensible und inklusive Sprache in allen Bereichen der Einrichtung zu pflegen. Sei es in Form einer offenen Gesprächsführung, d.h. dass wir z.B. bei Aufnahmegesprächen nicht von einer hetero- und cis-normativen Biographie ausgehen, sondern ganz offen nach Lebenspartnerschaften oder Beziehungen fragen, anstatt Männer nach einer Ehefrau und Frauen nach einem Ehemann. Auch die gewünschte Anrede zu erfragen, gehört hier dazu. Gerade bei trans*, inter*oder abinären Personen ist es wichtig, die richtigen Pronomina oder auch ihre Selbstbeschreibungen zu verwenden. Ältere Lesben, zum Beispiel, bevorzugen oftmals Bezeichnungen wie ‚Frauenverehrerin‘ oder ‚Frauenfreundin‘ anstelle der Bezeichnung ‚Lesbe‘.
Im Bereich Unternehmenspolitik weisen wir in der Außendarstellung deutlich auf ein queersensibles Arbeitsumfeld hin, sei es in unseren Stellenausschreibungen oder durch eine Verlinkung mit LSBTIQ*-Organisationen auf unserer Homepage. Im Bereich Sicherheit haben wir beispielsweise umfassende Schutzkonzepte vor Diskriminierung und Gewalt gegenüber Mitarbeitenden als auch Pflegeempfänger*innen erstellt, es gibt Verfahrensanweisungen im Umgang mit gegenderten Umkleiden und aktuell arbeiten wir an einer Leitlinie im Umgang mit Transitionen bei Mitarbeitenden. Das sind nur einige Beispiele, wie wir uns unterscheiden.
Im Bereich Lebenswelten weisen wir auf einen offenen Umgang mit Diversität hin – sei es durch die Gestaltung der Räume, beispielsweise mit verschiedenen Symbole der Communities, mit dem interkulturellen Jahreskalender oder mit Veranstaltungstipps aus der queeren Community.
Wird das Personal in eurer Pflegeeinrichtung besonders geschult, um die spezifischen Bedürfnisse von queeren Bewohner*innen zu verstehen und zu erfüllen? Wenn ja, wie?
Ralf Schäfer: Wir bieten den Mitarbeitenden regelmäßig Workshops und Schulungen zum Thema Diversity an. Neben generellen Themen wie Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung, gibt es auch Angebote zu LSBTIQ* Lebenswelten. Weitere Schwerpunktthemen sind trans* und inter* im Pflegekontext sowie HIV und Aids. Neu aufgenommen haben wir Themen aus dem Kontext (post)migrantische Pflege. Die Workshops werden in unterschiedlichen Formaten von 90 Minuten bis ganztägig angeboten. Konzipiert sind sie als theoretischer Input in Kombination mit aktiven Übungen, die ein emotionales Lernen ermöglichen und den Austausch unter den Mitarbeitenden fördern sollen. Wir befähigen Mitarbeitende so zu einem Perspektivwechsel und fördern die transkategoriale Kompetenz.
Gibt es besondere Freizeit-Programme oder Aktivitäten in eurer Pflegeeinrichtung, die speziell auf die Interessen und Bedürfnisse queerer Bewohner*innen zugeschnitten sind?
Ralf Schäfer: In der Einrichtung bieten wir auch Aktivitäten für queere Menschen an, wobei diese auch offen sind für alle Bewohnenden. Sollte der Wunsch bestehen, ein Angebot ausschließlich für queere Bewohnende anzubieten, würden wir dem nachkommen. Bisher war das aber noch nicht der Fall.
Unsere Angebote beinhalten beispielsweise queere Filmnachmittage, Besuche des lesbisch-schwulen Stadtfestes und des Christopher Street Days in Berlin. Wir organisieren Besuchsdienste queerer Selbsthilfegruppen ebenso wie Besuche (queerer) Kulturveranstaltungen. Wichtig ist, im guten Dialog mit den Bewohnenden zu sein und deren Wünsche regelmäßig zu erfragen. Das gilt für alle Bewohnenden, ungeachtet der sexuellen und geschlechtlichen Identität.
Welche Aufgaben erledigst du als Diversitätsbeauftragter bei der Immanuel Albertinen Diakonie?
Ralf Schäfer: Ich stehe allen Einrichtungen der Sparte Wohnen & Pflegen der Immanuel Albertinen Diakonie bei Fragen und in Konfliktsituationen beratend zur Verfügung. Dieses Angebot gilt für Mitarbeitende als auch für die uns anvertrauten Menschen, die wir in den unterschiedlichen Einrichtungen versorgen. In allen Einrichtungen werden Diversity Workshops angeboten.
Im Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg begleite ich darüber hinaus die anstehende Rezertifizierung mit dem Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt und unterstütze in der Netzwerkarbeit am Standort. Die Einrichtung ist Bündnispartnerin im „Bündnis gegen Homophobie“, Kooperationspartnerin der „Fachstelle LSBTI* Altern und Pflege“ in Berlin und Mitbegründerin des Bündnisses „November Rainbow“, ein Bündnis für queere Sichtbarkeit und Solidarität.
Wie können Familien und Freund*innen von queeren Bewohner*innen dazu beitragen, dass ihre Lieben sich wohlfühlen und sich voll entfalten können?
Ralf Schäfer: Bei dieser Frage muss man wissen, dass ältere LSBTIQ*-Menschen häufiger kinderlos und alleinlebend sind. Auch sind die Biographien häufiger von familiären Brüchen geprägt. Daher sind es neben Freund*innen eher Wahlfamilien oder Personen des Vertrauens, die einen Beitrag leisten können. Dieser Personenkreis ist aber in der Regel mit den Betroffenen selbst gealtert und kann sich oft nicht mehr in dem Maße einbringen, wie er es gerne möchte.
Grundsätzlich ist es aber wichtig, dass der Kontakt gehalten wird, diese Empfehlung gilt aber für alle Bewohnenden, unabhängig der sexuellen oder geschlechtlichen Identität. Wichtig ist, dass die neuen Bewohner*innen durch vertraute Menschen beim Umzug in ein völlig neues Wohnumfeld begleitet werden. Auch bei der Gestaltung des Zimmers in der Pflegeeinrichtung können diese unterstützen. Und nach dem Umzug ist es für queere Bewohnende von besonderer Bedeutung, den Kontakt zur Community zu erhalten. Hier können (Wahl-)Familien und Freund*innen einen großen Beitrag leisten, wenn sie Bewohnende etwa zu Veranstaltungen oder Festen begleiten.
Was würdest du Pflegeunternehmen und Pflegekräften mitgeben, die mit dem Thema „Queerness“ noch nicht so vertraut sind, aber die queeren Bewohner*innen in ihren Pflegeeinrichtungen besser unterstützen möchten?
Ralf Schäfer: Zunächst wünsche ich allen großen Spaß an ihrem Beruf und Mut für Veränderungen. Denn wenn man queere Menschen in Einrichtungen besser unterstützen möchte, muss man sie wahrnehmen und in ihrer Einzigartigkeit wertschätzen. Das kann auch bedeuten, dass man sich mit Tabuthemen auseinandersetzen muss.
Grundlegend ist, sich Wissen anzueignen, Informationen einzuholen und mit Interessensverbänden und Organisationen Kontakt aufzunehmen. Neben verschiedenen Informations- und Schulungsangeboten gibt es mittlerweile auch einige kostenfreie Onlineangebote rund um das Thema LSBTIQ*-sensible Pflege bzw. diversitätssensible Pflege. Bei der Nutzung von Onlineschulungen empfehle ich aber immer, zusätzlich auch Austauschrunden für Mitarbeitende anzubieten. Die Auseinandersetzung mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ist oft noch schambehaftet und häufig werden Mitarbeitende auch mit eigenen Vorbehalten oder gar Vorurteilen konfrontiert. Hier ist der Austausch in der Gruppe sehr wichtig, um ein Umdenken bzw. einen gelingenden Haltungswechsel herbeizuführen.
Wenn es um eine diversitätssensible Organisationsentwicklung geht, ist es wichtig, dass zu Beginn eine klare Haltung seitens der Leitung oder Geschäftsführung kommuniziert wird. Es muss deutlich werden, dass diese hinter einer diversitätssensiblen Ausrichtung steht und eine entsprechende Organisationsentwicklung ausdrücklich wünscht. Und dann ist es wichtig, dass Ressourcen für den Entwicklungsprozess bereitgestellt werden. Ein bedeutender Faktor wären die angesprochenen Schulungen, für die Mitarbeitende freigestellt werden müssten. Und eine gute Netzwerkarbeit, denn die Unterstützung aus der Community ist ein großer Gewinn für alle.
Wir möchten uns bei Ralf Schäfer für das informative und aufschlussreiche Interview bedanken und wünschen ihm und der Immanuel Albertinen Diakonie alles Gute für die Zukunft! Er und seine Kolleg*innen leisten wichtige Arbeit, die verdeutlicht, wie Pflegeeinrichtungen zu Orten werden können, an denen jeder Mensch sich wohlfühlt und angemessen versorgt wird – unabhängig von sexueller und geschlechtlicher Identität.
Anmerkungen:
*LSBTIQ* steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und queere Menschen
Hast du dich schon einmal mit queerfreundlicher Pflege auseinandergesetzt?