Generalistische Pflegeausbildung – Gewinn oder Schwachstelle der Pflege?
Im Januar 2020 ging die generalistische Pflegeausbildung an den Start. Die vorherigen Pflegeausbildungen wurden zu einer neuen fachübergreifenden Ausbildung zusammengefasst. Auszubildende durchlaufen jetzt drei Tätigkeitsfelder und können sich dann entscheiden, ob sie sich auf die Kranken-, Alten- oder Kinderkrankenpflege spezialisieren wollen. Die ersten „Pflegefachfrauen“ und „Pflegefachmänner“ starteten 2023 in ihren Job. Der erste Jahrgang hat die neue generalistische Ausbildung abgeschlossen – aber was ist jetzt das Fazit der Pflege zu dieser Veränderung? Kritik kommt von allen Seiten, auch aus unserer Community. Wir haben uns den häufigsten Pro- und Contra- Argumenten gewidmet und diese für euch gesammelt.
Oberflächlichkeit ist Ansichtssache
Dem wohl größten Vorurteil, dass die Generalistik wichtiges Wissen vernachlässigt, kann Laura nicht zustimmen und berichtet uns von der Ausbildung. Neben Inhalten zur Geschichte der Pflege und zu moralischen und rechtlichen Hintergründen der pflegerischen Tätigkeiten wurden auch Wundversorgungen, das Anlegen von Injektionen oder steriles Arbeiten gründlich geübt und das sogar bei Kindern.
Generalistik komprimiert wichtiges Wissen
Intensiv-Fachpfleger Stefan, sieht die neue Ausbildungsform jedoch kritisch und betitelt sie als „größte[n] Fehler“. Er sieht vor allem im Bereich der Pädiatrie klare Nachteile und kann Lauras Erfahrung nicht zustimmen. Gerade die medizinische Behandlung der Kinder umfasse so viele Themen, dass es für ihn ein „Witz“ sei, die Spezialisierung auf ein Jahr zu komprimieren. Dieses Misstrauen findet man nicht nur bei langjährigen Pflegekräften, auch Pflegeschüler*innen haben Bedenken. Daher sagt Stefan, dass das Prinzip der Generalistik grundsätzlich nicht schlecht sei, aber der Inhalt für ihn nicht optimal an die kurze Ausbildungszeit angepasst wurde. „Wichtige Themen werden nur angerissen oder erst gar nicht vermittelt“, kritisiert er.
Überflutung statt Fokus: Überfordert die Generalistik Pflegeschüler*innen?
Entgegen aller Vorwürfe erwidert Laura: „Wie viel ausführlicher müssen wir denn noch den Stoff lernen? […] Jede (Kinder-)Krankheit auswendig zu können, bringt mir nichts, wenn ich das nicht umsetzen kann!“ Verena hingegen kann sich auf Stefans Meinung stützen und muss Lauras Ansicht mit eigenen Erfahrungen widerlegen. „Seien es Verknüpfungen von Krankheitsbildern, Zusammenhänge von Organfunktionen bzw. Funktionsstörungen oder auch ganz einfache praktische Tätigkeiten.“ Ihre Azubis hätten große Wissenslücken! Auf die Frage, ob die Ausbildung ihrer Meinung nach die Qualität der Pflege erhöht, antwortet Verena mit einem klaren Nein: „So, wie [die Ausbildung] jetzt läuft, glaube ich das nicht.“ Als Praxisanleiterin kennt Verena noch ein weiteres Problem der Generalistik: Ihre Auszubildenden berichten zunehmend von Überforderung.
Auszubildende spüren die mangelnde Praxisanleitung
Ein weiteres Problem sind die Praxiseinsätze, die zu 10 Prozent von einer Praxisanleitung begleitet werden sollen. Laura schildert: „Die Anleiter*innen sind nur kurz da, um die notwendigen Papiere zu unterschreiben.” Das Stellen von Lernaufgaben sowie anschließende Bewertung und Reflexion fände ebenfalls nur selten statt. Verena, die selber seit 23 Jahren als Pflegeanleiterin tätig ist, findet, dass aus Gründen des Personalmangels wieder mehr Inhalte in der Schule vermittelt werden müssten. Dies habe in der früheren Ausbildung besser geklappt. Zusätzlich sei es nicht ihre Aufgabe als Praxisanleiterin, das fehlende theoretische Wissen in der Praxis zu vermitteln. Ein sehr schwieriges Thema, vor allem wenn das Bundesgesundheitsministerium schreibt, man wolle die Qualität der Ausbildung durch eine bessere Anleitung und Begleitung der Auszubildenden erhöhen.
Mit @praxisanleiterin_sandra haben wir in unserem Podcast “Pflegetalk mit PKM” darüber gesprochen, wie gute Praxisanleitung aussehen sollte und welche Eigenschaften eine Pflegekraft dafür braucht.
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Altenpflege – ein Verlierer der Generalistik?
Während die einen oder anderen die Attraktivität im neuen Pflegemodell sehen, kommt es laut Expert*innen aber auch zu einem unerwünschten Nebeneffekt durch die berufliche Flexibilität. Aufgrund der Spezialisierung im dritten Ausbildungsjahr haben sie Sorge, dass sich künftig weniger Azubis für die Altenpflege entscheiden und diese einer zunehmenden Abwertung unterliegt. Auch Laura aus unserer Community bestätigt, dass sie sich nach ihrem Abschluss gegen einen Beruf in der Altenpflege entschieden hat, obwohl sie ihre Prüfung sogar in einem Seniorenzentrum absolvierte. „Eine Fachkraft auf 30 Bewohner*innen und drei Helfer*innen, wenn keiner krank wird! Sind wir Menschen oder Roboter?!“
Die Rolle des Wohlbefindens im Pflegeberuf
Für Laura liegt die Schwäche somit auf Seiten der Pflege, nicht der Generalistik. Gerade in der Altenpflege bestehen bereits viele Missstände und es ist leicht, die Generalistik für zunehmende Probleme, wie den Personalmangel, verantwortlich zu machen. Pflegepädagogin Annette Eicher macht im Gespräch mit der Pflegekammer darauf aufmerksam, wie häufig ihr Azubis in Praxisreflexionen mitteilen, es sei für sie weniger relevant, wie der Arbeitsort aussehe, sondern das Gefühl und menschliche Miteinander vor Ort sei entscheidend. Ihre Ansicht fügt sich auch mit dem Bild, was uns Laura vermittelt. Sie fühlte sich unwohl, spürte die Engpässe und schlechten Strukturen, die in der Altenpflege herrschen. Dazu sagt Eicher: „Sie möchten sich wohlfühlen und auch als Mensch gesehen werden – nicht nur als zusätzliche Hand“.
Rückkehr zur alten Ausbildung?
Für unsere Kritiker*innen kommt der Wunsch, eine vollständige Rückkehr zum alten Ausbildungssystem der Pflege zu vollziehen, nicht ausdrücklich zur Sprache. Viel mehr setzten sie auf Verbesserungsvorschläge oder Lösungsansätze:
Ein großer Fortschritt sei erreicht, wenn die generalistische Ausbildung besser an den Fachkräftemangel angepasst wäre. Zusätzlich dürfen sich die Azubis nicht erdrückt fühlen von der Fülle an Informationen, die sie vermittelt bekommen. Auch der Umgang mit Schüler*innen müsse sich laut Verena in den Einrichtungen verändern. Sie stellt klar: „Auszubildende sollten keine Dienstretter sein!“
Stefan und Verena brachten im Interview mehrmals zum Ausdruck, dass sie mit dem Wissensstand und den Kompetenzen ihrer Azubis nicht zufrieden sind. Laura findet darauf diese Antwort: „Keine Pflegekraft der Welt kennt alle spezifischen Bedürfnisse eines Menschen und pauschal zu sagen, dass die “neuen” Pflegefachfrauen und -männer bestimmten Personengruppen nicht gewachsen sind, [ist unfair].“ Gerade in der Anfangszeit wirken Azubis wie eine zusätzliche Last, dabei sollte jede Pflegekraft, egal ob Pro- oder Contra-Generalistik berücksichtigen, dass sie selbst einmal Anfänger*innen waren und eingearbeitet werden mussten.
Wie findet ihr die generalistische Pflegeausbildung?
Quellen
- diakoneo.de: https://www.diakoneo.de/
- pflegeausbildung.net: https://www.pflegeausbildung.net/
- aerzteblatt.de: https://www.aerzteblatt.de/
- bundesgesundheitsministerium.de: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/