Im September 2021 streikten die Pflegekräfte der landeseigenen Vivantes-Kliniken sowie der Charité in Berlin. Dem Streik schlossen sich auch die Beschäftigten der Tochterunternehmen des Vivantes-Konzerns an, die unter anderem für die Reinigung und die Versorgung mit Speisen und Getränken verantwortlich sind. Die Streikenden wollten auf diesem Wege bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege sowie ein höheres Gehalt für das Küchen- und Reinigungspersonal erstreiten. Zeitweise haben über 2.000 Beschäftigte der Gesundheitseinrichtungen die Arbeit niedergelegt und so mussten Eingriffe verschoben und mehrere Stationen geschlossen werden. So verständlich die Unzufriedenheit des Krankenhauspersonals mit den Arbeitsbedingungen auch sein mag — Ist ein Streik gerechtfertigt, wenn dadurch die Versorgung der Patient*innen gefährdet wird?
Alle haben das Recht, zu streiken
Grundsätzlich dürfen in Deutschland alle Beschäftigten, abgesehen von Beamt*innen, streiken, um zum Beispiel für höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen einzutreten. Es gibt zwar kein ausdrückliches Streikrecht, aber im Grundgesetz ist das Recht auf Arbeitskampf festgehalten. Von diesem Recht wird am effektivsten durch Streik Gebrauch gemacht. Dennoch versuchte Vivantes zu Beginn des Streiks, die Belegschaft mit juristischen Mitteln von der Arbeitsniederlegung abzuhalten. Der Klinikkonzern erwirkte beim Berliner Arbeitsgericht eine Einstweilige Verfügung, den Streik zu unterlassen. Das Arbeitsgericht nahm die Verfügung allerdings wenige Tage später zurück und die Pflegekräfte konnten ihren Warnstreik wieder aufnehmen. Der Gesundheitssektor ist zwar sehr sensibel, da Streiks hier unmittelbare Auswirkungen auf Menschenleben haben können, doch solange die Notfallversorgung gewährleistet wird, besteht auch hier ein Recht auf Streik.
Wer gefährdet hier Menschenleben?
Nachdem die Beschäftigten der Krankenhäuser den Streik wieder aufnehmen konnten, führte die Gewerkschaft Verdi eine Urabstimmung durch und der Warnstreik ging in einen unbefristeten Streik über, um die Führungsebene der Kliniken zu ernsthaften Verhandlungen zu bewegen. Die Verhandlungen blieben einige Tage ergebnislos und wirkten sich daher deutlich auf den Klinikalltag aus. Vivantes gab an, dass zeitweise über 900 der 5.500 Betten gesperrt werden mussten, 17 Stationen vollständig schließen mussten und mehr als 1.000 Operationen verschoben wurden. Der Krankenhauskonzern warf seinen Pflegekräften daraufhin vor, durch den unverhältnismäßigen Streik akut das Leben von Menschen aufs Spiel zu setzen. Die Gewerkschaft Verdi hielt dagegen, dass die Unterbesetzung von Stationen und die Abmeldung von Rettungsstellen ohnehin zum Klinikalltag gehöre. Die Pflegekräfte wollen keine Lohnerhöhungen erkämpfen, sondern setzen sich für mehr Personal ein. Denn die Anzahl an Patient*innen pro Pflegekraft und die chronische Überlastung des Pflegepersonals verhindere permanent die optimale Versorgung der Patient*innen. Genau diesen Zustand wollen die Pflegekräfte beenden — nicht nur um ihrer selbst Willen, sondern auch zum Wohle der Patient*innen. Dem Streik gingen fruchtlose Verhandlungen voraus, die sich über Monate zogen. Die Belegschaft sah den Streik als letztes Mittel, Druck auf die Konzernspitze aufzubauen.
Wer bezahlt den Entlastungstarifvertrag?
Tatsächlich fallen die Personlaregelungen in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen in den Zuständigkeitsbereich des Bundes. Ist ein Streik, der sich nur auf zwei Klinikkonzerne bezieht, überhaupt sinnvoll? Grundsätzlich können diese Regelungen durch einen Tarifvertrag auch unabhängig von den Bundesbeschlüssen formuliert werden, doch die Finanzierung der Kliniken hinge weiterhin vom Bund ab. Da während der Corona-Krise — ebenso wie während des Streiks — planbare Eingriffe verschoben wurden, entging den Kliniken ein Großteil ihrer Einnahmen. Diese Gelder fehlen nun und können nicht für Investitionen in die Klinikausstattung oder neues Personal investiert werden. Selbst wenn die Streikenden erfolgreich sind und die Kliniken einen Weg finden, die Forderungen zu finanzieren, ist das deutsche Gesundheitssystem auf Wirtschaftlichkeit und Effizienz getrimmt, das Wohl der Beschäftigten oder der Patient*innen steht nicht im Vordergrund. Daher kann nur eine umfassende Reform der Gesundheitsversorgung langfristig für Verbesserungen sorgen.
Auf wessen Seite steht die Öffentlichkeit?
Verdi ist der Meinung, mit der Anschuldigung, leichtfertig das Wohl der Patient*innen zu gefährden, wollte die Vivantes-Führung vor allem den Streik diskreditieren und in ein schlechtes Licht rücken. Wenn das der Fall war, ging die Strategie aber nicht auf. Auf verschiedenen Social Media Plattformen solidarisierten sich zahlreiche Privatpersonen mit den Streikenden, auch in Rheinland-Pfalz und in Brandenburg kam es zu Warnstreiks unter den Beschäftigten von Krankenhäusern und sogar die britische Kampagne „NHS Workers say NO“ bekundete via Twitter ihre Unterstützung für die Berliner Pflegekräfte.
Ist der Streik ein No-Go?
Rein rechtlich haben auch Pflegekräfte das Recht, gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu protestieren und zu streiken. Auch wenn die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystem in der Tat entscheidend ist für das Funktionieren der Gesellschaft und Verzögerungen im Ablauf und die Unterbesetzung der Stationen grundsätzlich nicht positiv sind für die Patient*innenversorgung, ist ein Streik unter Pflegekräften völlig legitim. Die streikenden Pflegekräfte schildern regelrechte Schreckensszenarien, die sich tagtäglich in den Kliniken abspielen und nicht nur die Gesundheit der Pflegekräfte selbst strapazieren, sondern auch die eigentliche Gefahr für die Patient*innen darstellen. Selbst wenn der Streik sich nicht direkt auf das Gesundheitssystem an sich auswirkt, sind die Protestmärsche und Kundgebungen ein medienwirksames Mittel, um auch die übrige Bevölkerung zu mobilisieren und ein gesellschaftliches Umdenken anzuregen.
Inzwischen haben sich Verdi, die Berliner Charité und die Vivantes Klinik auf ein Eckpunktepaket zur Entlastung der Pflegekräfte verständigt. Bis Mitte November wollen die Verhandlungspartner einen Tarifvertrag vereinbaren, der die Pflegekräfte durch eine Personalaufstockung entlasten soll. Mit den Vivantes Tochtergesellschaften konnte bisher keine Einigung getroffen werden. Dort geht der Streik weiter.
Was hältst du von Streiks in der Gesundheitsbranche? Würdest du auch auf die Straße gehen, um zu protestieren? Schreib uns gerne einen Kommentar zu deiner Meinung zu dem Thema.
Quellen:
Deurag: www.deurag.de/blog/streikrecht/
Twitter: www.twitter.com/NurseSayNO/status/
Berliner Morgenpost: www.morgenpost.de/berlin/Streik-bei-Vivantes-und-Charite-geht-weiter
www.morgenpost.de/berlin/Verdi-Streik-bei-Vivantes-Toechtern-wird-wieder-aufgenommen
Gewerkschaft Verdi: https://www.verdi.de/themen/geld-tarif/
Tagesspiegel: www.tagesspiegel.de/berlin/berichte-der-streikenden-pflegekraefte-in-berlin
www.tagesspiegel.de/berlin/vivantes-vorstand-appelliert-im-pflegestreik-an-berlins-senat/
www.tagesspiegel.de/berlin/gericht-untersagt-streik-in-berlins-klinikkette
Ärzteblatt: www.aerzteblatt.de/nachrichten/Verdi-kuendigt-viertaegigen-Warnstreik-an
taz: taz.de/Pflege-Streik-bei-Vivantes-und-Charite/
rbb: www.rbb24.de/wirtschaft/neue-gespraeche-zwischen-vivantes-und-charite-am-wochenende
ZDF: www.zdf.de/pflege-streik-berlin-vivantes-pflegenotstand
Zeit: www.zeit.de/charit-und-verdi-eckpunkte-fuer-tarifeinigung-gefunden